Sie hat Quentin Tarantino und Wes Anderson begeistert und das Bondgirl abgeschafft: Die französische Schauspielerin Léa Seydoux sollte mit gleich vier Filmen das berühmteste Festival der Welt dominieren. Dann bekam sie ihren Covid-Test zurück.
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Die meisten Schauspieler und Regisseure träumen davon, einmal im Leben auf dem roten Teppich die Stufen des Festivals von Cannes erklimmen zu dürfen. Léa Seydoux sollte das in der kommenden Woche gleich viermal tun, für vier verschiedene Filme, die Königin von Cannes, die Muse der Autorenfilmwelt. Aber nun, am Samstag, die Meldung: Sie hat sich bei neuen Dreharbeiten mit Covid angesteckt. Momentan weiß niemand, ob die Königin in Cannes auftreten können wird.
Im Herbst jedenfalls wird sie auch zur wichtigsten Frau der Blockbusteruniversums werden: als Dr. Madeleine Swann in „Keine Zeit zu sterben“, das erste Bondgirl, das für einen zweiten Bond zurückkehren darf. Eben kein Bondgirl, sondern die erste Bondwoman, Tochter eines Spectre-Mörders, Lebensgefährtin für 007. Intelligent, kühl, verführerisch. Léa Seydoux Superstar.
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Kunststück, könnte man sagen, bei dieser Familie. Seydoux entstammt der Ehe von Valerie Schlumberger (Ex-Schauspielerin, aus der Textil- und Öldynastie) mit dem Geschäftsmann Henri Seydoux (Mitbesitzer der Schuhmarke Louboutin, aus der Kinodynastie Seydoux, der die beiden größten französischen Filmkonzerne Gaumont und Pathé gehören). Wir wissen, dass Monsieur Louboutin ins Ferienhaus der kleinen Léa kam und lauter Schuhe zeichnete und ihr mit zwölf die ersten Stiefel schenkte. Und dass sie in „Saint-Laurent“ dessen Muse Loulou de la Falaise gespielt hat.
„Wie eine Waise“
Seydoux bestreitet in Interviews mit einem deutlichen Anflug von ennui, Vitamin S könne etwas mit ihrem Aufstieg zu tun gehabt haben. Sie erzählt von der Scheidung ihrer Eltern, als sie drei war, von der Zeit mit ihrer Mutter in Afrika und von Sommerlagern in Amerika, wo sie einwandfreies Englisch lernte, im Gegensatz zu den vielen anderen Stars aus Frankreich, von Binoche über Tautou bis Cotillard, deren Akzent ihnen letztlich die Weltkarriere verbaute.
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Und sie erzählt, wie einsam sie sich als Kind gefühlt habe, schlecht in der Schule, eine Außenseiterin, verloren in der großen Familie. „Wie eine Waise“, sagt sie, jemand, durch die man hindurch sieht. Oder, ließe sich vermuten, wie ein blankes Stück Papier, auf das jeder Regisseur seine Wunschvorstellung von ihr malt.
Als sie 18 Jahre alt war, verknallte sie sich in einen Schauspieler, einen „arroganten Schauspieler“, fügt sie hinzu. Verfolgte ihn durch die Straßen von Paris, erfand Ausreden, um ein Gespräch zu beginnen. Er beachtete sie kaum. Das war der Moment, in dem sie sich vornahm, selbst Schauspielerin zu werden, um ihm zu beweisen, dass es sie auch gab, auch sie Aufmerksamkeit verdiente. Seinen Namen verrät sie nicht, aber sie hat ihr Ziel erreicht. Sie ist auf jeden Fall berühmter als er.
Türöffner Tarantino
Es begann in Werbeclips und führte über Teenie-Dramen zu einem besonderen Casting: Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“. Es wurde nur ein kurzer Auftritt, als Tochter des Bauern, der die versteckte jüdische Familie verrät, und Tarantino ließ sie nach einer Viertelstunde sterben, aber die Rolle öffnete ihr alle Türen.
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Das französische Kino hat immer die femme française exportiert, kess, kokett und schmollmündig. Auch Seydoux kann süß schmollen, wie in „Midnight in Paris“, wo sie am Ende mit Owen Wilson auf der Brücke steht, und Woodys Kamera macht sie hemmungslos an, obwohl Allen vor seinem Film den Namen Seydoux noch nie gehört hatte. Er, der mit felsenfest gezimmerten Dialogen am Drehort erscheint, hat sie ihre eigenen Zeilen erfinden lassen.
Auch Wes Anderson war Seydoux unbekannt, bevor er den Prada-Spot mit ihr drehte, worin sie mit der Fingerspitze den Zuckerguss von einer Torte schnippt und aufreizend lang daran lutscht; sofort schrieb Anderson Seydoux eine Rolle im „Grand Budapest Hotel“, wo gar keine Rolle war. Im vierten Teil von „Mission Impossible“ schreitet sie zu Beginn wie ein männlicher eiskalter Engel im langen Regenmantel dahin, tötet einen Agenten, muss aber dann aus dem Fenster des höchsten Wolkenkratzers der Welt stürzen.
Cannes, damals
Das mag nach jener globalistischen Karriere klingen, die die Heimat möglichst schnell hinter sich lässt, doch das französische Kino ist stark genug, um seinen Stars große Rollen zu bieten. Und wieder geschah es in Cannes. Alle waren hingerissen von „Blau ist eine warme Farbe“, worin Seydoux als Malerin eine lesbische Beziehung mit einer jungen Grundschullehrerin eingeht.
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Alle strömten in die Pressekonferenz. Das sind üblicherweise Anbetungsrituale, in denen Kritiker zum Ausdruck bringen, wie toll sie den Film fanden und Schauspieler davon schwärmen, wie toll ihr Regisseur ist. Doch Seydoux sprach von Problemen, die es mit ihrem Regisseur Abdellatif Kechiche gegeben habe, von seiner Art, Sexszenen zu drehen.
Parallel zu dem Siegeszug, den der Film 2013 weltweit antrat, vertiefte sich der Bruch zwischen Seydoux und Kechiche. Von 18-Stunden-Drehtagen war die Rede, von extremen Anforderungen Kechiches, von privaten Momenten, in denen Kechiche weiterfilmte, obwohl seine Schauspielerinnen sich unbeobachtet glaubten, von dessen „Staubsaugern von Gefühlen“. Kechiche hatte sich geweigert, „Blau“ vor der Premiere seinen Stars zu zeigen, und in ihrer wachsenden Panik bat Seydoux Festivalchef Frémaux darum, ihn sehen zu dürfen – was der im Geheimen arrangierte.
„Dein Fleisch und dein Blut“
Im MeToo-Amerika stünden Kechiche und sein Film längst auf der roten Liste. Desto bemerkenswerter, wie Seydoux nun, Jahre später, damit umgeht. Sie würde, wenn sie könnte, absolut nichts an dieser Erfahrung ändern wollen, sagte sie dem Kinoportal „Deadline“: „Ich bin stolz auf den Film und stolz darauf, diesen Prozess durchlaufen zu haben. Kino ist ein Lern- und Wachstumsprozess, und seitdem fühle ich, dass ich alles erreichen kann. Schauspielen sollte nicht komfortabel sein. Du musst dein Fleisch und dein Blut auf den Tisch legen.“ Das hält sie nicht davon ab, mit Kechiche keinen Kontakt mehr zu pflegen.
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Für Seydoux ist Kino ein Medium des Regisseurs – was nicht heißt, dass sie sich dessen Visionen bedingungslos unterwirft. In einer Fernsehsendung erwähnte sie einmal, dass sie gern die Telefonnummer von Godard hätte. Ein paar Tage später rief er auf ihrem Handy an, man traf sich eine halbe Stunde, sprach übers Kino: „Wir waren nicht einer Meinung.“ Sie zitiert gern einen Spruch von Isabelle Adjani: „Wenn ich mit einem Regisseur arbeite, mache ich innerhalb seines Films immer auch meinen eigenen Film.“
In „Lebwohl, meine Königin!“ spielt sie mit höfischer Pose die Vorleserin von Marie Antoinette, in „Grand Central“ im Schutzanzug eine Arbeiterin in einer Atomwiederaufbereitungsanlage, in „Winterdieb“ eine verantwortungslose Mutter, die ihrem Sohn einredet, sie sei seine Schwester. Seydoux steckt nicht in einer sozialen Schublade, anders als viele auf Mittel- oder Oberklasse abonnierte Akteure ihres Landes, und sie steckt auch nicht in einer Geschlechterschublade fest: In „Die Schöne und das Biest“ ist sie das Objekt männlicher, in „Blau ist eine warme Farbe“ das weiblicher Begierde, und sie kleidet sich gern androgyn chic, „gavroche sexy“, hat das „Le Monde“ genannt, nach dem Gassenkind in „Les Misérables“.
Die Wes-Anderson-Familie
In Cannes erleben wir sie nun nächste Woche binnen weniger Tage in „France“ als in eine Krise geratene Kriegsreporterin, in „Die Geschichte meiner Frau“ (von der Berlinale-Gewinnerin Ildikó Enyedi) als kapriziöse Französin im Europa der Zwanzigerjahre und in „Tromperie“ als Geliebte eines Schriftstellers in der Verfilmung des Philip-Roth-Romans „Täuschung“.
Und natürlich gehört sie inzwischen zur Wes-Anderson-Familie, der ihr für seinen „The French Dispatch“ einen Part geschrieben hat, der ihrem Charakter passt wie ein maßgeschneiderter Handschuh: Sie ist die Gefängniswärterin des Malers Benicio del Toro, zugeknöpft und streng, aber sich als sein Nacktmodell selbst befreiend. C’est la Seydoux: Kälte und Hochemotionalität.
In ihrer ersten Hauptrolle, als 22-jährige in „Das schöne Mädchen“, war sie das Objekt heimlicher Lieben und unausgesprochener Begehren. Sie weist ab, lässt sich ein, tändelt herum, bleibt den anderen und sich ein Rätsel. Das ist sie bis heute geblieben, im Kino und außerhalb, und darin besteht ein guter Teil ihrer Faszination.
Bei Pressekonferenzen sieht Léa Seydoux zuweilen aus, als träume sie, sei gar nicht präsent. Wird sie angesprochen, hört sie aufmerksam zu und setzt ein Lächeln auf, das Mona Lisa neidisch machen würde und irgendwo zwischen freundlichem Interesse, tiefer Genervtheit und weltmüdem Leiden oszilliert. Dann setzt sie zu einer Antwort an, verliert im Laufe des langen Satzes den Faden und beendet ihn mit der Bemerkung, darüber müsse sie erst nachdenken.
Das Ergebnis ihres Nachdenkens bekommen wir aber nie mitgeteilt, so wenig wie die Gründe für die Einladungsliste zu ihrem Traumgeburtstag, die sie einmal aufgestellt hat. Sie werden nicht da gewesen sein, an ihrem 36. Geburtstag vorige Woche, aber hier ist die Liste: Michael Jackson, Charlie Chaplin, Maria Callas und Serge Gainsbourg. Und Friedrich Nietzsche.
P.S.: Das letzte Bulletin über Majestäts Gesundheitszustand meldet, sie befinde sich seit mehr als einer Woche zu Hause in Paris in Quarantäne. Sie sei zweimal geimpft gewesen, zeige keine Symptome und warte auf zwei negatzive Tests an zwei aufeinanderfolgenden Tagen.